Oktober 2021 / INVESTMENT INSIGHTS
Soziale Gerechtigkeit und Umweltpolitik dürften die neuen deutschen Themen sein
Nach der Wahl ist mit positiven Nachfrage-Impulsen sowie mit Inflationsdruck zu rechnen
Auf den Punkt gebracht
- Eine Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) dürfte die nächste Bundesregierung bilden.
- Durch die Regierungsbeteiligung der links gerichteten Grünen ist ein politischer Kurswechsel für mehr sozialer Gerechtigkeit und eine Öko-Wende in Deutschland fast unvermeidbar.
- Dies wird die Nachfrage anregen und Aufwärtsdruck auf die Preise ausüben, was aus Sicht der Europäischen Zentralbank für eine höhere Inflation in der Eurozone sorgen dürfte.
Der Ausgang der Bundestagswahl steht nun fest, und wahrscheinlich wird – wie die Umfrageergebnisse vor der Wahl bereits erwarten ließen – eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die nächste Bundesregierung bilden. In diesem Fall dürfte die neue Regierung versuchen, für höhere Löhne zu sorgen und die Energiewende im Land zügiger voranzutreiben. Dies wird zusätzliche Impulse für die Nachfrage bedeuten und letztlich den Inflationsdruck in der deutschen Wirtschaft erhöhen. Weil die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Christlich-Soziale Union (CSU) aber mehr Stimmen erhalten haben als erwartet, ist eine Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP weiterhin denkbar (wir sehen die Wahrscheinlichkeit bei rund 40%).
Die soziale Gerechtigkeit und der Klimawandel waren für die Wähler die wichtigsten Themen
Die Flüchtlingskrise und Covid-19 wurden als weniger wichtig angesehen
Das gute Abschneiden der Mitte-links-Parteien in Deutschland lässt klare Rückschlüsse zu, welche Fragen und Probleme den Wählern am meisten am Herzen lagen. Laut den Umfragen betrachteten die meisten Deutschen die soziale Gerechtigkeit und den Klimawandel bei der Wahl als die drängendsten Probleme, wichtiger als den Umgang mit der Flüchtlingsfrage und die Bewältigung der Covid-19-Krise (siehe Grafik). Dies kam eindeutig der SPD und den Grünen zugute, die gleich zu Beginn des Wahlkampfs diese beiden Themen in ihren Wahlprogrammen in den Vordergrund gestellt hatten.
Es ist ein aus mehreren Gründen historisches Wahlergebnis. Zum Beispiel hat die CDU/CSU erstmals überhaupt seit dem 2. Weltkrieg weniger als 30% der Stimmen errungen. Zudem wird Deutschland zum ersten Mal von einer Drei-Parteien-Koalition regiert werden. Und schließlich zementiert das gute Wahlergebnis der Grünen ihre fortgesetzte Entwicklung zur dritten großen Partei in Deutschland. In der Vergangenheit gab es davon nur zwei: CDU/CSU und SPD. Doch was geschieht nun?
Das Wahlergebnis steht fest, und alle Parteien nehmen Gespräche über die Bildung einer Koalitionsregierung auf. Und irgendwann wird ein Koalitionsvertrag unterzeichnet, der genau regelt, welche Maßnahmen umgesetzt werden, und klarstellt, wo die Beteiligten jeweils Kompromisse eingegangen sind. Diese Verhandlungen können sechs bis acht Wochen in Anspruch nehmen, wenn es in den Wahlprogrammen der jeweiligen Parteien starke Überschneidungen gibt. Doch weil diesmal drei Parteien beteiligt sind (darunter die FDP, deren Wahlprogramm zum Teil Wahlversprechen enthält, die stark von den Positionen von SPD und Grünen abweichen), dürften sich die Verhandlungen länger hinziehen. Auch ist das Risiko größer, dass die Gespräche wie im Jahr 2017 scheitern und abgebrochen werden.
Ausgehend vom Wahlausgang sind wir weiterhin der Auffassung, dass das Ergebnis höchstwahrscheinlich eine von SPD und Grünen angeführte Koalition sein wird. Doch in der aktuellen Phase ist das alles andere als sicher. SPD und Grüne haben zwei potenzielle Verhandlungspartner: die FDP und die CDU. Eine Koalition mit der CDU mutet am unwahrscheinlichsten an, weil mehr Kompromisse eingegangen werden müssten als bei einer Koalition mit der kleineren FDP.
Doch auch eine Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP sollte nicht gänzlich ausgeschlossen werden, zumal die CDU/CSU bei der Wahl besser abgeschnitten hat als erwartet. Die CDU/CSU könnte versuchen, die Grünen und die FDP mit größeren Zugeständnissen als die SPD auf ihre Seite zu ziehen. Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet ist ein geschickter Verhandler, der über langjährige Erfahrung mit der Bildung von Koalitionen verfügt. Ich bin der Auffassung, dass die Chancen für eine Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP bei rund 40% liegen.
Doch trotz dieser Unsicherheit ist zu beachten, dass an einer Regierungskoalition, ob nun unter der Führung der SPD oder der CDU, sehr wahrscheinlich auch die Grünen beteiligt sein werden. Laut ihrem Wahlprogramm wollen die Grünen im Laufe der nächsten zehn Jahre 500 Mrd. EUR in den Übergang des Landes zu Netto-Null-CO2-Emissionen investieren. Letzten Endes könnten diese Ausgaben zwar niedriger ausfallen, doch es steht so gut wie fest, dass ein großes, ambitioniertes Paket für den Umweltschutz geschnürt wird. Dieses Investitionspaket dürfte Schätzungen zufolge einen positiven Konjunkturimpuls in der Größenordnung von 0,75% bis 1,25% des Bruttoinlandsprodukts bedeuten, der kurzfristig noch stärker sein könnte, falls die Impulse vorgezogen werden, um den Wählern vor der nächsten Wahl im Jahr 2025 zu zeigen, dass ihre Anliegen ernst genommen wurden.
Auswirkungen auf die Märkte
Wie oben dargelegt, besteht ein gewisses Risiko, dass die Koalitionsgespräche anders ausgehen als erwartet. Die Inhalte solcher Verhandlungen werden zwar in der Regel geheim gehalten, doch ein gewisses riskantes Verhalten ist unvermeidlich. Dies hat zur Folge, dass der Markt die Wahrscheinlichkeiten immer wieder anders beurteilt, was Schwankungen der Anlagenpreise auslöst.
Soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung haben in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen einen hohen Stellenwert, und zudem drängen die Wähler sehr stark auf Veränderungen in diesen Bereichen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass im Koalitionsvertrag letzten Endes eine deutliche Anhebung des Mindestlohns vereinbart wird. Falls der Mindestlohn, wie versprochen, auf 12 EUR pro Stunde steigt, wird dies laut Daten aus dem Jahr 2018 Auswirkungen auf rund 26% der Arbeitsverträge haben. Beide Parteien schlagen auch höhere öffentliche Ausgaben vor, um den Übergang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft in Deutschland zu fördern.
Diese Maßnahmen werden die Nachfrage im Jahr 2022 ankurbeln. Eine Erhöhung des Mindestlohns wird der Nachfrage unmittelbar Impulse geben, weil Arbeitnehmer, die den Mindestlohn erhalten, gewöhnlich einen großen Teil ihres Einkommens ausgeben. Die für den Übergang zu Netto-Null-Emissionen nötigen Investitionen werden die Nachfrage zusätzlich anschieben, unseres Erachtens sogar länger als der einmalige Effekt eines höheren Mindestlohns.
Diese Maßnahmen könnten allerdings auch Auswirkungen auf die Inflation haben, vor allem angesichts der aktuellen Inflationslage in Deutschland. Wir sind davon überzeugt, dass der aktuelle Anstieg der Großhandelspreise für Gas und Strom in Europa im Januar zum größten Teil auf die deutschen Privathaushalte abgewälzt wird, obgleich die Regierung wahrscheinlich versuchen wird, den Effekt auf mehrere Arten abzufedern. Trotzdem werden die höheren Energiekosten vermutlich auch dazu führen, dass die deutschen Unternehmen ihre Preise erhöhen werden.
Die Erhöhung des Mindestlohns könnte im aktuellen Umfeld, in dem die Inflation bereits durch den Kostenschub stark angeheizt wird, dazu führen, dass die Gewerkschaften bei der Tarifrunde im Herbst höhere Löhne fordern werden. Dies würde die mittelfristige Inflation antreiben. Die Europäische Zentralbank wird auf diese Entwicklungen wahrscheinlich nicht reagieren, sondern stattdessen darauf vertrauen, dass diese Dynamik dazu beiträgt, die Inflation in der Eurozone entsprechend ihrem 2%-Ziel auf einem höheren Niveau festzuzurren.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen einer von SPD und Grünen angeführten Koalition könnten daher zwar beträchtlich sein, doch bis zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen wird auch ein gehöriges Maß an Unsicherheit darüber herrschen, welche politischen Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden. Weil diese Maßnahmen aber erst vollständig eingepreist werden können, wenn sie in der endgültigen Fassung des Koalitionsvertrags festgelegt sind, dürften inflationsgebundene deutsche Bundesanleihen auf den aktuellen Niveaus nach wie vor Wertpotenzial bieten.
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