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Februar 2021 / MARKETS & ECONOMY

Das Brexit-Handelsabkommen (TCA) lässt Fragen offen

Nicht im Vertrag geregelte Bereiche könnten von Reformen profitieren.

Viereinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum ist das Warten endlich vorbei: Großbritannien hat den Binnenmarkt und die Zollunion der Europäischen Union verlassen und sich aus einem politischen und wirtschaftlichen Abkommen gelöst, das seit 1973 wirksam war. An dessen Stelle tritt ein in letzter Minute abgeschlossener Handelsvertrag, der in einigen Bereichen für Klarheit sorgt – andere aber im Ungewissen lässt. Was der Brexit in der Praxis letztlich also bedeutet, bleibt abzuwarten.

In der zehnten Ausgabe unserer wöchentlichen Serie geben die beiden Brexit-Experten von T. Rowe Price Quentin Fitzsimmons und Tomasz Wieladek einen Überblick über den aktuellen Stand der Dinge und ihre Einschätzungen für die Zukunft.

Was hat sich seit unserer letzten Ausgabe ereignet?

Nach monatelangen zähen Verhandlungen haben sich Großbritannien und die Europäische Union am 24. Dezember auf ein Handels- und Kooperationsabkommen (TCA) geeinigt, in dem sie ihre Handels- und Sicherheitsbeziehungen nach dem Brexit regeln. Der Vertrag stand lange auf der Kippe, da die Verhandlungen seit dem offiziellen Austritt am 31. Januar 2020 immer wieder ins Stottern geraten sind – einhergehend mit heftigen gegenseitigen Vorwürfen der beiden Parteien. Auch wenn die meisten Beobachter eine – wie auch immer geartete – Einigung erwartet hatten, drohte über den Börsen bis zum Schluss ein No-Deal-Szenario.

Allerdings wäre das Ergebnis zum Zeitpunkt des Referendums wohl als „harter Brexit“ bezeichnet worden. Das Abkommen über den zoll- und quotenfreien Warenhandel bedeutet, dass auf Produkte, die vollständig im Vereinigten Königreich oder in der EU hergestellt werden, keine neuen Steuern erhoben werden. Die „Ursprungsregel“-Klausel bedeutet jedoch auch, dass britische Unternehmen bei der Ausfuhr von Waren, die außerhalb Großbritanniens oder der EU hergestellte Komponenten enthalten, unter Umständen der Mehrwertsteuer und Einfuhrzöllen unterliegen. Abgesehen von der Zollfrage werden aber auch andere Handelshemmnisse zunehmen, da der Handel zwischen Großbritannien und der EU einer Reihe von neuen Vorschriften, Kontrollen und bürokratischen Hürden unterliegt. So geht die britische Regierung davon aus, dass die Unternehmen bei der Einfuhr oder Ausfuhr von Waren schätzungsweise 215 Millionen zusätzliche Zollerklärungsformulare ausfüllen müssen, was in Häfen wie Dover erhebliche Verzögerungen zur Folge haben dürfte.

Besorgniserregender ist [...] die Tatsache, dass das Abkommen viele Dienstleistungen, die einen beträchtlichen Anteil der britischen Exporte ausmachen, außen vorlässt.

- Quentin Fitzsimmons, Portfoliomanager Fixed Income

Während einige der neuen Regelungen den Warenhandel langfristig verändern werden, dürfte die wesentliche Last, nämlich die Kosten der Unternehmen für die Anpassung an die neuen Handelsbedingungen, nur vorübergehend für Druck sorgen. Besorgniserregender ist daher die Tatsache, dass das Abkommen viele Dienstleistungen, die einen beträchtlichen Anteil der britischen Exporte ausmachen, außen vorlässt. So ist beispielsweise der Bereich Rechtsberatungen geregelt, während etwa britische Finanzdienstleister künftig wohl darauf vertrauen müssen, dass Brüssel ihnen die „Äquivalenz“ zuspricht, um ihre Leistungen wie bisher in den EU-Ländern anzubieten (mit einem Äquivalenzabkommen wird festgestellt, dass die Vorschriften eines Drittlandes gleichwertig zu denjenigen der EU sind, sodass die Unternehmen in der jeweils anderen Rechtsordnung tätig sein dürfen).

Großbritannien und die EU wollen bis März eine Absichtserklärung über die Regulierung und Zusammenarbeit im Finanzdienstleistungssektor auf den Weg bringen. Allerdings dürften darin lediglich die Verfahren für das künftige Vorgehen festgelegt werden. Vermutlich wird die Europäische Kommission eine Äquivalenz erst gewähren, nachdem sie alle regulatorischen Unterschiede geprüft und bewertet hat. Außerdem hat sie ein erhebliches wirtschaftliches Eigeninteresse daran, die Äquivalenz nur in Bereichen zu gewähren, in denen entweder London erhebliche Wettbewerbsvorteile genießt oder für die es in der EU keinen adäquaten Ersatz gibt. Letztlich scheint also unwahrscheinlich, dass die britischen Finanzdienstleister den gleichen Zugang zum EU-Markt erhalten wie vor dem Brexit.

Bis entsprechende Entscheidungen getroffen sind, gilt für die Finanzdienstleistungsbranche also praktisch ein No-Deal. Diese macht jedoch Berechnungen der Londoner Verwaltungsbehörde zufolge einen Anteil von 10,5 Prozent aller britischen Steuereinnahmen aus. Zugleich entfallen etwa 40 Prozent der im Ausland erbrachten britischen Finanzdienste auf die EU. Allerdings sehen wir für Bereiche, in denen keine Äquivalenz gewährt wird, auch eine Chance. Denn die britische Regierung kann dann in eigenem Ermessen von den EU-Vorgaben abweichen und die Wettbewerbsfähigkeit steigern, ohne zollrechtliche Konsequenzen seitens der Währungsunion zu befürchten.

Wie geht es weiter?

In vielen Bereichen wird der Handel gedämpft bleiben, solange die Corona-Beschränkungen in Kraft sind. Zugleich haben viele britische Unternehmen ihre Lager vor dem 31. Dezember noch einmal aufgefüllt, und die britische Grenzbehörde will die neuen Zollregelungen offenbar erst nach Juni 2021 anwenden. Diese Faktoren werden die Folgen des Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus dem Binnenmarkt und der Zollunion zunächst überdecken, sodass die längerfristigen regulatorischen Auswirkungen des Brexit-Abkommens erst im vollen Ausmaß deutlich werden, wenn die Corona-Pandemie endgültig hinter uns liegt.

Aus heutiger Sicht besteht schätzungsweise zu 70 Prozent Klarheit darüber, wie der Warenhandel langfristig funktionieren wird. Sobald alle offenen Punkte geklärt sind, könnten einige Unternehmen letztlich jedoch zu dem Schluss kommen, dass der grenzüberschreitende Handel zu kostspielig für sie ist.

Im Dienstleistungssektor dürften die Verhandlungen über den Marktzugang noch einige Zeit andauern. Es bleibt abzuwarten, wie weit das Memorandum of Understanding zwischen der EU und Großbritannien im März gehen wird – sofern es zustande kommt. Allerdings dürfte Brüssel mit weiteren Äquivalenzabkommen zögerlich sein, weshalb es noch eine Weile dauern könnte, bis für grenzüberschreitende Finanzdienste Klarheit herrscht.

Ein außergewöhnlicher Umbruch – und eine Chance

Auf kurze Sicht hängt der Wirtschaftsausblick für Großbritannien vor allem von den Kosten für die Umstellung auf den Brexit sowie vom weiteren Verlauf der Corona-Pandemie ab. Trotz der höheren Bevorratung, des pandemiebedingt eingeschränkten Waren- und Personenverkehrs und der relativ lockeren Grenzkontrollen dürften sich im verarbeitenden Gewerbe die Anpassungskosten im ersten Quartal 2021 deutlich spürbar machen, was die Gilt-Renditen und das Pfund unter Druck setzen dürfte.

Die Abschaffung des EU-Gesetzes könnte die Arbeitszeiten in Großbritannien erhöhen

Die Arbeitszeitrichtlinie hatte weniger Arbeitsstunden pro Woche zur Folge

Die Abschaffung des EU-Gesetzes könnte die Arbeitszeiten in Großbritannien erhöhen

Stand: 31. Dezember 2019.
Quelle: OCED/Haver Analytics.

Zugleich macht Großbritannien bei der Impfung seiner Bevölkerung deutlich schnellere Fortschritte als die Eurozone, weshalb es früher in der Lage sein dürfte, die Beschränkungen aufzuheben – sofern neue, impfstoffresistente Virus-Mutationen ausbleiben. Wenn Großbritannien die Beschränkungen drei bis vier Wochen früher als die Eurozone lockern kann, dürfte das Pfund gegenüber dem US-Dollar Auftrieb erhalten. Zugleich dürften bis zum Frühjahr die Gilt-Renditen steigen, da sich Investoren risikoreicheren Anlagen zuwenden.

... es wird eine ganze Weile dauern, bis sich ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht einstellt.

- Tomasz Wieladek, International Economist

Der Austritt Großbritanniens aus der EU stellt einen historischen Wechsel des Handelsregimes dar, und es wird eine ganze Weile dauern, bis sich ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht einstellt. Die erläuterten Handelshemmnisse dürften das britische Bruttoinlandsprodukt mittelfristig belasten. Zugleich könnten aber auch positive Impulse freigesetzt werden, wenn die Regierung ihre neue regulatorische Freiheit klug zu nutzen weiß. Hierfür hätte sie verschiedene Möglichkeiten.

So könnte die britische Regierung etwa die in der EU geltende Bonusobergrenze für Banken abschaffen.

- Quentin Fitzsimmons, Portfoliomanager Fixed Income

Erstens könnte sie jene Wirtschaftsbereiche deregulieren, die vom Brexit-Abkommen nicht abgedeckt sind. So könnte die britische Regierung etwa die in der EU geltende Bonusobergrenze für Banken abschaffen. Deutlich höhere variable Vergütungen, die zusätzlich zu einem entsprechend geringeren Festgehalt gezahlt werden, könnten im Krisenfall stärker reduziert werden, was wiederum den Bedarf an steuerfinanzierten Rettungsmaßnahmen verringern würde. Auch wenn, wie bei jeder Finanzreform, eine übermäßige Deregulierung zu stärkeren Boom-Bust-Zyklen führen könnte, wird dieses Risiko dadurch gemindert, dass der nach der globalen Finanzkrise eingerichtete britische Regulierungsapparat bei jeder Reform genau darauf achtet, das Finanzsystem durch Stresstests auf seine Widerstandsfähigkeit hin zu prüfen.

Eine zweite Option bestünde darin, die britische Umsetzung der EU-Regulierung auf die Minimalstandards zu reduzieren. Dies würde die Wettbewerbsfähigkeit stärken, ohne Vergeltungszölle im Zusammenhang mit den gleichen Wettbewerbsbedingungen auszulösen. So schreibt die EU-Arbeitszeitrichtlinie beispielsweise ein Minimum von vier Wochen bezahlten Jahresurlaub für Vollzeitbeschäftigte vor, während es in der britischen Umsetzung 5,6 Wochen sind (vier Wochen plus alle britischen Feiertage). Mit einer Verkürzung der Urlaubszeit um eine Woche pro Jahr – etwa durch eine teilweise Auszahlung des Urlaubsanspruchs oder durch eine Erhöhung der Arbeitszeit um eine Stunde pro Woche – ließe sich das potenzielle BIP des Vereinigten Königreichs um 2 Prozent steigern (die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Briten sank, als die Reform 1998 eingeführt wurde). Natürlich wird es politischen Widerstand gegen derartige Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geben, aber es sind genau solche Reformen, die der Wirtschaft mittelfristig am meisten helfen.

Natürlich wird es politischen Widerstand gegen derartige Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geben, aber es sind genau solche Reformen, die der Wirtschaft mittelfristig am meisten helfen.

- Tomasz Wieladek, International Economist

Drittens könnte die britische Regierung die politische Dynamik nach dem Brexit nutzen, um andere wirtschaftliche Reformen voranzutreiben, beispielsweise in Bezug auf das britische Planungssystem. Ein daraus resultierender stärkerer Wohnungsbau und niedrigere Kosten könnten einen positiven Angebotsschock auslösen und den Bedarf an Arbeitskräften im Baugewerbe steigern, was voraussichtlich das Lohnwachstum im Bausektor in ganz Großbritannien stützen würde.

Ungewisse Zukunft

Nach wie vor ist unklar, wie sich der Brexit und die Wirtschaftsreformen langfristig auf das potenzielle BIP-Wachstum im Vereinigten Königreich niederschlagen. Ebenso unklar sind derzeit die Folgen der Handelsunterbrechungen, die von verschiedenen Faktoren abhängen, etwa dem neuen rechtlichen Rahmen für das Angebot britischer Finanzdienstleister in den EU-Ländern. Zugleich werden die Auswirkungen von Reformen auf das Produktivitätswachstum vor allem von der Tiefe, Breite und politischen Akzeptanz solcher Reformen abhängen.

Auch nach der Corona-Pandemie werden die Handelskonflikte das britische BIP noch einige Zeit belasten. Wenn die britische Regierung ihre neue regulatorische Autonomie jedoch voll ausschöpft und zugleich die politische Dynamik nach dem Brexit nutzt, um bestimmte Wirtschaftsbereiche zu reformieren, könnte sich dies deutlich positiv auf das potenzielle BIP-Wachstum auswirken. Ob dies gelingt, wird sich in den nächsten zwei bis drei Jahren zeigen. Jeder Hinweis darauf, dass Großbritannien diesen Weg einschlägt, dürfte mittelfristig eine Versteilerung der Gilt-Renditekurve und eine Stärkung des Pfunds gegenüber dem Euro zur Folge haben.

 

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